„Es kommt darauf an“ ist eine Art erstes Gebot in der juristischen Bewertung von Sachverhalten. Dagegen spricht der sogenannte Anscheinsbeweis, der sich auf Erfahrungswerte aus ähnlich gelagerten Fällen speist. Wer sich auf den erstgenannten Grundsatz stützen will, braucht stichhaltige Beweise, an denen es dem Beklagten eines Auffahrunfalls fehlte, der vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht (OLG) stand.
Die Tochter der Klägerin befuhr innerorts eine Straße. An einer Kreuzung musste sie als erstes Fahrzeug an der Ampelanlage anhalten. Diese zeigte sowohl für den Geradeausverkehr als auch für Rechtsabbieger Rot. Nachdem die Tochter der Klägerin wieder angefahren war, bremste sie nach Überfahren der Haltelinie vollständig ab – warum, blieb unklar. Klar allerdings war, dass der hinter ihr fahrende Beklagte auf ihr Fahrzeug auffuhr.
Das OLG nahm eine Haftungsverteilung von 80 zu 20 zugunsten der Klägerin an. Gegen den Beklagten spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er den Unfall allein verschuldet habe. Von einem atypischen Geschehensablauf könne nicht ausgegangen werden. Um den Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden zu erschüttern, genüge es nicht, dass der Voranfahrende in der Anfangsphase grundlos abbremst. Voraussetzung ist vielmehr, dass ein „starkes Abbremsen“ nachgewiesen werde, das über das Maß eines normalen Bremsvorgangs hinausgeht. Und eben dies konnte im hiesigen Fall nicht festgestellt werden. Hierbei berücksichtigte der Senat auch, dass das Klägerfahrzeug gerade erst angefahren war und somit ein starkes Abbremsen gar nicht möglich gewesen wäre. Dessen Halterin muss sich allerdings eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr von 20 % anrechnen lassen.
Hinweis: Nach starkem Abbremsen ohne zwingenden Grund kann trotz grünem Ampellicht eine alleinige Haftung des Abbremsenden in Betracht kommen. Ein starkes Abbremsen ohne zwingenden Grund muss der Auffahrende allerdings beweisen können, da im gleichgerichteten Verkehr grundsätzlich von einem Alleinverschulden des Auffahrenden aufgrund des gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweises auszugehen ist.
Quelle: Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 19.03.2024 – 7 U 82/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)