Das Oberlandesgericht (OLG) Celle wagt mit seiner folgenden Entscheidung ein womöglich richtungsweisendes Urteil, das Erleichterung in ähnlich geartete Fälle bringen könnte. Und die gibt es nicht selten. Denn schließlich haben selbst berührungslose Stürze nach Notbremsungen oftmals böse Folgen.
Ein Mann fuhr auf seinem Motorrad eine Straße entlang, und wie so oft auf Straßen üblich, fuhr vor ihm ein Pkw. Auf der Gegenfahrbahn stand indes in einer Kurve ein Müllfahrzeug, das wiederum die entgegenkommende Frau – die spätere Beklagte – mit ihrem Pkw passieren wollte. Dafür fuhr sie dann auch auf die Gegenfahrbahn. Um eine Kollision mit dem Fahrzeug der Frau zu vermeiden, bremste der vor dem Motorradfahrer fahrende Pkw stark ab, so dass der Biker eine Vollbremsung vollzog. Dabei geriet er ins Rutschen, stürzte und verletzte sich, ohne in diesem Verlauf jedoch auf das vorausfahrende Kfz aufzufahren. Erstinstanzlich wurde die Klage des Gestürzten auf Schadensersatz mit der Begründung abgewiesen, er sei allein schuld an seinem Sturz gewesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte jedoch Erfolg – zumindest teilweise.
Wo bislang aber galt, dass nach berührungslosen Unfällen kein Verursachungsbeitrag nach Anscheinsbeweisgrundsätzen festgestellt werden darf, sieht es das OLG Celle hier anders und entschied, dass der Kläger 40 % seines Schadens ersetzt verlangen kann. Die Beklagte hafte mit, weil sie ohne vorsichtige Prüfung an der durch den haltenden Müllwagen geschaffenen Engstelle vorbeigefahren war. Es habe dabei nicht ausgereicht, langsam den Müllwagen zu überholen. Die Frau habe vielmehr den Gegenverkehr überprüfen müssen, bevor sie zum Überholen ansetzte. Jedoch spricht der Anscheinsbewies auch für einen Verkehrsverstoß des Klägers, auch wenn es nicht zu einer Kollision zwischen Motorrad und vorausfahrendem Fahrzeug kam. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht rechtzeitig, auf die wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren und nur durch einen vorherigen Sturz eine Kollision mit dem Vorausfahrenden zu verhindern, spricht wie im Fall einer Auffahrkollision die Lebenserfahrung dafür, dass die Ursache für den Sturz das eigene Fehlverhalten ist – infolge zu geringen Abstands oder Unaufmerksamkeit. Eine überwiegende Haftung der Beklagten kam nach Ansicht des OLG Celle daher nicht in Betracht. Denn der Kläger trage einen deutlich höheren Verantwortungsanteil als die Beklagte. Erst sein sorgfaltswidriges Verhalten habe zum Sturz geführt. Dabei sei zu beachten, dass der Vorausfahrende auch rechtzeitig habe bremsen können, ohne dass es zu einer Kollision mit dem ihm vorausfahrenden und zuerst bremsenden Pkw kam.
Hinweis: Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) wurde zugelassen, weil sich das Gericht hier gegen die Meinungen zweier OLGs (OLG München, NJOZ 2018, 661; OLG Hamm, DAR 2023, 622) stellt, die die Auffassung vertreten, dass bei berührungslosen Unfällen ein Verursachungsbeitrag nach Anscheinsbeweisgrundsätzen nicht festgestellt werden darf. Sollte der BGH die Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bejahen, würde dies die Beweisführung künftig erleichtern.
Quelle: OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023 – 14 U 32/23
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(aus: Ausgabe 03/2024)