Das sogenannte Werkstattrisiko schützt einen Unfallgeschädigten mit Erteilung des Reparaturauftrags – unabhängig davon, ob die Rechnung bereits beglichen wurde oder nicht. Somit soll er nach einem unverschuldeten Unfall von unnötigem Aufwand verschont werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat dieses Werkstattrisiko nun auf Sachverständige erweitert, die für eine Schadensregulierung hinzugezogen werden.
Bei einem Verkehrsunfall, für den die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Grunde nach voll haftet, wurde ein Pkw beschädigt. Dessen Halter beauftragte die Klägerin, Inhaberin eines Sachverständigenbüros, mit der Begutachtung seines verunfallten Pkw und trat gleichzeitig seine diesbezüglichen Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte an die Klägerin ab. Die Versicherung erstattete die Kosten für das Gutachten – mit Ausnahme der von der Klägerin in Rechnung gestellten Position „Zuschlag Schutzmaßnahme Corona“ in Höhe von 20 EUR. Die Klägerin hat diese Rechnungsposition damit begründet, dass sie insbesondere Desinfektionsmittel, Einwegreinigungstücher und Einmalhandschuhe habe anschaffen müssen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen, weil die Richter der Auffassung waren, dass eine „Corona-Pauschale“ von dem Sachverständigen nicht gesondert in Rechnung gestellt werden dürfe.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem BGH hingegen Erfolg. Dem Geschädigten stand dem Grunde nach ein Anspruch gegen die Beklagte auf Ersatz der Kosten des eingeholten Sachverständigengutachtens zu. Dieser Anspruch ist durch die Abtretung auf das klagende Sachverständigenbüro übergegangen. Auf gegebenenfalls überhöhte Kostenansätze eines Kfz-Sachverständigen sind die Grundsätze zum Werkstattrisiko übertragbar, die der Senat in seinem Urteil vom 16.01.2024 (VI ZR 253/22) für überhöhte Kostenansätze einer Werkstatt für die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs fortentwickelt hat.
Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind demnach auch diejenigen Rechnungspositionen, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise unangemessen, mithin nicht zur Herstellung erforderlich sind. Bei der Beurteilung, ob die durchgeführten Corona-Schutzmaßnahmen objektiv erforderlich waren, war zu berücksichtigen, dass einem Sachverständigen unternehmerische Entscheidungsspielräume zu seinem individuellen Hygienekonzept während der Corona-Pandemie zuzugestehen sind. Dabei geht es nicht nur um den Schutz des Sachverständigen und seiner Mitarbeiter vor einer Ansteckung, sondern auch um den Schutz, den der Auftraggeber der jeweiligen Begutachtung üblicherweise oder während der Pandemie erwarten darf.
Hinweis: Zu beachten ist, dass der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs die Abtretung eventuell bestehender Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen verlangen kann. Die Anwendung der genannten Grundsätze zum Werkstattrisiko auf die Sachverständigenkosten setzt nicht voraus, dass der Geschädigte die Rechnung des Sachverständigen bereits bezahlt hat. Soweit der Geschädigte die Rechnung nicht beglichen hat, kann er – will er das Werkstattrisiko bzw. hier das Sachverständigenrisiko nicht selbst tragen – die Zahlung der Sachverständigenkosten allerdings nicht an sich, sondern nur an den Sachverständigen verlangen, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger (dieses Risiko betreffender) Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen.
Quelle: BGH, Urt. v. 12.03.2024 – VI ZR 280/22
zum Thema: | Verkehrsrecht |
(aus: Ausgabe 06/2024)