Bei der Erstellung einer letztwilligen Verfügung wird bei privat erstellten Testamenten nicht immer klar getrennt, ob es sich bei der Zuwendung um ein Vermächtnis oder um eine Erbeinsetzung handeln soll. Die letztwilligen Verfügungen müssen daher häufig ausgelegt werden – so auch im folgenden Fall des Amtsgerichts Hameln (AG).
Die Erblasserin sowie der vorverstorbene Ehemann hatten ein privatschriftliches gemeinschaftliches Testament aufgesetzt und sich zu Alleinerben bestimmt. Für den Todesfall des Überlebenden verfügten sie, dass drei Nichten und ein Neffe jeweils 30.000 EUR erhalten sollen, wobei einer Nichte zusätzlich eine Ferienwohnung und ein Pkw zugewendet werden solle. Weiterhin verfügten sie, dass das „übrige Geld“ ein Kinderdorf in München erhalten solle. Rein rechnerisch betrug die Zuwendung an das Kinderdorf den prozentualen Anteil von knapp 62 % des gesamten Nachlasswerts. Nach dem Tod der Erblasserin waren die Nichten und Neffen der Ansicht, dass nur sie jeweils zu einem Drittel Erben nach der Erblasserin geworden seien. Bei der Zuwendung an das Kinderdorf habe es sich lediglich um ein Vermächtnis gehandelt.
Dieser Ansicht ist das AG jedoch nicht gefolgt und hat letztlich einen gemeinschaftlichen Erbschein ausgestellt, der alle Beteiligten mit einer Erbquote von einem Viertel auswies. Das Gericht hat sich ausführlich mit der Auslegung des Testaments auseinandergesetzt. Allein die Wahl der Bezeichnung „erbt“, „erhält“ oder „vermacht“ sei kein zwingendes Indiz für die juristische Einordnung. Die Begrifflichkeiten werden von juristischen Laien in der Regel nicht bewusst verwendet. Wesentliches Auslegungskriterium ist vielmehr, ob der Bedachte in die rechtliche Stellung des Erblassers eintreten soll und insbesondere damit auch für die Tilgung von Nachlassschulden verantwortlich ist. Hierbei spielt insbesondere das Wertverhältnis zwischen den zugewendeten Gegenständen im Verhältnis zum Wert des gesamten Nachlasses eine wichtige Rolle. Die Zuwendung einer Geldsumme ist zwar in der Regel nur ein Vermächtnis – handelt es sich bei dieser Geldsumme aber um einen wesentlichen Teil des Nachlasses, ist in der Regel davon auszugehen, dass der Erblasser die bedachte Person zum Erben einsetzen wollte.
Hinweis: Bei einem Wert oberhalb von 80 % des Gesamtnachlasses ist in der Regel von einer Erbeinsetzung auszugehen. Trotzdem kann eine klare prozentuale Grenze zwischen einer Vermächtnisanordnung und einer Erbeinsetzung nicht gezogen werden. Die Grenze ist immer vom Einzelfall abhängig. Sie kann insbesondere niedriger sein, wenn der verbleibende Nachlass auf mehrere Personen aufgeteilt wird.
Quelle: AG Hameln, Beschl. v. 10.02.2023 – 19 VI 147/22
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(aus: Ausgabe 05/2023)