Der folgende Fall zeigt, wie schnell einem Elternteil im Inland das eigene Kind entzogen und bis zu einer gerichtlichen Klärung entfremdet werden kann. Das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) musste hier – so die Grundlage des Familienrechts in Kindersachen – zugunsten der Kinder entscheiden.
Die Eheleute und die beiden Kinder hatten zusammen in Süddeutschland gewohnt. Um sich zu trennen, tauchte die Frau in einem Frauenhaus in Norddeutschland unter und nahm die beiden Kinder mit. Das Jüngere wurde noch beigestillt, das Ältere war im Kindergartenalter. Der Vater wollte erreichen, dass die Kinder zurück nach Süddeutschland kommen, und beantragte beim Familiengericht (FamG) an seinem Wohnort das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder. Er war bereit, Mutter und Kindern die Familienwohnung zu überlassen und auszuziehen. Alternativ bot er an, die Kinder selbst zu betreuen. Doch das Jugendamt am Ort des Frauenhauses attestierte eine gute Versorgung der Kinder und teilte mit, die Mutter habe dort eine Wohnung gefunden, in die sie demnächst umziehe. Der Verfahrensbeistand sprach sich für einen Verbleib der Kinder bei der Mutter aus, weil die Bindung zu ihr enger sei. Eine Trennung des Säuglings von der Mutter komme zudem nicht in Betracht. Ob für die Mutter eine Bedrohungslage durch den Vater bestanden hatte, ließ sich nicht aufklären.
FamG und OLG entschieden im Eilverfahren vorläufig – beide zum Nachteil des Vaters. Dabei kam es ausdrücklich nicht auf die Frage an, dass die Mutter die Kinder entführt und damit das Sorgerecht des Vaters verletzt habe. Denn Familienrecht ist kein Strafrecht. Bei der Abwägung darf nur das Kindeswohl eine Rolle spielen, nicht das Bedürfnis der Sanktion eines Fehlverhaltens eines Elternteils. Der Ortswechsel ohne das Einverständnis des anderen Elternteils hat innerhalb Deutschlands nur Bedeutung für die Frage, ob daraus Rückschlüsse auf eine Entfremdungsabsicht zu ziehen sind. Das OLG glaubte der Mutter zwar nicht, dass kein näheres Frauenhaus aufnahmebereit gewesen wäre, und sah, dass der Vater seine Kinder seit Monaten nicht gesehen hatte. Dennoch unterstellte es der Mutter nicht, die Kinder dem Vater entfremden zu wollen. Das Grundrecht eines Elternteils verbietet es, ihn selbst zum Rückzug aufzufordern. Es geht allein um den Aufenthalt der Kinder.
Hinweis: In einem Hauptsacheverfahren kann noch der endgültige Verbleib der Kinder geklärt werden. Die Erfolgswahrscheinlichkeit für den Vater ist in diesen Fällen aber gering. Das Verhalten der Mutter wird als „ertrotzte Kontinuität“ bezeichnet. Bis das Hauptsacheverfahren entscheidungsreif ist, werden sich die Kinder am neuen Wohnort und mit der neuen Situation so eingelebt haben, dass kein Gericht sie wieder herausreißt. Bei jüngeren Kindern führt die Eigenmächtigkeit daher häufig zum Ziel.
Quelle: OLG Stuttgart, Beschl. v. 10.02.2023 – 15 UF 267/22
zum Thema: | Familienrecht |
(aus: Ausgabe 06/2023)