Wer über Antworten auf offene Fragen mutmaßen muss, sucht nach Anhaltspunkten, die nahelegen, was mit großer Wahrscheinlichkeit gemeint gewesen war. So auch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG), das mit der Interpretation eines handschriftlich verfassten letzten Willens betraut wurde. Und siehe da: Die Bestimmung von Ersatzerben gab dem Gericht einen Wink in die vermutet richtige Richtung.
Die kinderlosen Erblasser hatten im Jahr 1990 ein gemeinschaftliches handschriftliches Testament aufgesetzt und sich gegenseitig zu Alleinerben bestimmt. Nach dem Tod des Letztverstorbenen sollte der gesamte beiderseitige Nachlass je zur Hälfte an den Bruder des Ehemanns bzw. an die Schwester der Ehefrau fallen. Nach dem Tod des Bruders sollte die Erbschaft wiederum an dessen Kinder fallen. Sowohl der Bruder des Erblassers als auch die Schwester der Ehefrau waren bereits vorverstorben. Nach dem Tod des Ehemanns beantragte die Nichte aus der Familie der Ehefrau einen gemeinschaftlichen Erbschein – sie war der Ansicht, dass die Erblasser deren Vermögen zu gleichen Teilen der Familie des Ehemanns und der Ehefrau zukommen lassen wollten. Die Kinder des Bruders waren hingegen der Ansicht, dass vielmehr eine Vor- und Nacherbschaft angeordnet worden sei. Demnach seien sie nach dem Tod ihres Vaters – dem Bruder des Erblassers – als seine Kinder zu gleichen Teilen Erben geworden.
Dieser Ansicht schloss sich im Ergebnis auch das OLG nach einer Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments an. Orientiert hat es sich hier zunächst am Wortlaut der Verfügung. Dabei spielte es insbesondere eine Rolle, dass die Erblasser keine Regelung für den Tod der Schwester der Ehefrau getroffen hatten – wohl aber eine Regelung für den Fall des Tods des Bruders. In diesem Fall greift aufgrund des Vorversterbens der Geschwister eine gesetzliche Vermutungsregelung, wonach die Einsetzung als Nacherbe im Zweifel auch die Einsetzung als Ersatzerbe zur Folge hat. Aus diesem Grund sind die Kinder des Bruders dessen Ersatzerben – und zwar zu gleichen Teilen. Gründe außerhalb des Testaments, die gegen diese Auslegung sprechen, konnte das OLG nicht feststellen. Nachdem das Nachlassgericht zunächst einen Erbschein ausgestellt hatte, der auch die Kinder der verstorbenen Schwester als Erben berücksichtigt hatte, wurde diese Entscheidung somit aufgehoben.
Hinweis: Die Auslegung beginnt immer damit, den Wortlaut im Sinne eines allgemeinen Sprachgebrauchs auszulegen. Führt diese Auslegung nicht zur Ermittlung des tatsächlichen Willens eines Erblassers, kommen weitere Auslegungskriterien wie der mutmaßliche Wille des Erblassers zum Tragen.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 27.06.2023 – 21 W 52/23
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(aus: Ausgabe 09/2023)