Wer zugunsten des (wieder) fließenden Verlehrs nach einem Stau die Kreuzung räumen möchte, sollte stets gewährleisten, niemanden zu gefährden – egal, wie lang man bereits darauf gewartet hat, weiterfahren zu können. Sonst landet man schnell vor dem Verkehrsgericht, so wie der Lastwagenfahrer in diesem Fall sich vor dem Landgericht Lübeck (LG) wiederfand.
Die 85-jährige Klägerin stand an einer Ampel und wartete darauf, die Straße überqueren zu können, auf der so viele Autos unterwegs waren, dass es zu einem Stau kam. Der beklagte Lastwagenfahrer schaffte es dabei nicht mehr über die Kreuzung und wartete vor dem Fußgängerüberweg. Als die Fußgängerampel auf grün sprang, löste sich gleichzeitig der Stau auf. Es kam, wie es kommen musste: Die Klägerin ging los, während der Lastwagen anfuhr, sie überrollte und schwer verletzte. Vor dem LG klagte sie unter anderem auf eine weitere Schmerzensgeldzahlung. Die beklagte Versicherung des Lastwagenfahrers hatte eingewendet, die Frau hätte nicht über die Straße gehen dürfen und stattdessen den Lastwagen als sogenannten „Kreuzungsräumer“ durchfahren lassen müssen.
Die Klage der Fußgängerin war überwiegend begründet. Das LG verurteilte die Beklagte daher zu weiterem Schmerzensgeld. Die Haftung des Lkw-Fahrers ergebe sich aus dem vom Gericht festgestellten Unfallgeschehen. Die Klägerin durfte über die Fahrbahn gehen, denn der Lastwagen hatte als Kreuzungsräumer keine Vorfahrt. Die Klägerin hätte sich zwar durchaus vergewissern müssen, dass der Lastwagen vor dem Fußgängerüberweg stehen bleibt, als sich der Stau auflöste. Trotz grüner Fußgängerampel hätte sie nicht sofort losgehen dürfen. Dennoch müsse sie sich laut LG aber kein Mitverschulden anrechnen lassen. Denn den Lastwagenfahrer träfe ein so schweres Verschulden, dass er allein haftet. Seinerseits sei zwar eine erhöhte Betriebsgefahr aufgrund der eingeschränkten bzw. fehlenden Sicht sowie des größeren Verletzungspotentials durch den Lkw nebst Anhänger zu berücksichtigen – dennoch wog sein Verschulden schwer. Das Gericht geht nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Fahrer der Zugmaschine unmittelbar vor der Fußgängerfurt zum Stehen kam und die Furt bewusst für mögliche querende Fußgänger frei ließ. Die wartende Klägerin hätte der beklagte Lkw-Fahrer nach Auffassung des Gerichts wahrnehmen können, er sei aber aus Unachtsamkeit bei Auflösen des Staus dennoch angefahren, als die Ampel für die Klägerin bereits grün zeigte.
Hinweis: Auch der Hinweis, der Lkw-Fahrer habe die Klägerin aus seiner Führerkabine gar nicht sehen können, überzeugte das LG nicht. Er hätte sich viemehr vor dem Anfahren vergewissern müssen, dass er niemanden gefährdet – notfalls aussteigen oder sich von anderen zur Weiterfahrt einweisen lassen müssen, und zwar auch, wenn er mit der Zugmaschine die Fußgängerfurt bereits durchfahren hatte. Mit dem Überqueren der Straße durch andere Verkehrsteilnehmer muss ein Kraftfahrzeugführer rechnen, nachdem sein Fahrzeug wegen stockenden Verkehrs dort zum Halten gekommen ist – erst recht im Bereich einer Fußgängerampel.
Quelle: LG Lübeck, Urt. v. 29.09.2023 – 3 O 336/22
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(aus: Ausgabe 12/2023)