Über Kinder darf nicht wie über Sachen – also nie nach Aktenlage – entschieden werden. Das Gericht muss sich stets einen persönlichen Eindruck vom betroffenen Kind verschaffen und es kennenlernen. Weil es daran mangelte, hob das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) die Entscheidung eines Familienrichters als verfahrensfehlerhaft auf und gab ihm auf, die erforderliche Anhörung nachzuholen.
Es ging um einen unstreitig alkoholkranken Vater, der rückfällig geworden war. Jemand hatte anonym eine Kindeswohlgefährdung beim Jugendamt gemeldet, das bei einem Hausbesuch das Kind dann auch in Obhut nahm. Im Verfahren behauptete der Vater, er sei nun abstinent und könne das Kind versorgen. Außerdem wolle das Kind auch wieder bei ihm wohnen. Von seiner Abstinenz war das Gericht jedoch nicht überzeugt. Es käme wegen der objektiven Kindeswohlgefährdung auf den Kindeswillen sowieso nicht an – und so veranlasste der Richter auch keine Anhörung des Kindes.
Laut OLG ist die persönliche Anhörung des Kindes jedoch zwingend. Sie dient auch dem Verschaffen eines Eindrucks von dem Kind durch das Familiengericht, um daraus Rückschlüsse auf dessen Befindlichkeit, Wünsche, Neigungen und Bindungen zu ziehen. Das OLG habe daher die Aufgabe, das Verfahren unter Berücksichtigung des Alters, des Entwicklungsstands und der sonstigen Fähigkeiten des Kindes so zu gestalten, dass das Kind seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden lassen kann. Sollte tatsächlich, wie das erstinstanzliche Gericht mutmaßt, der Wille des Kindes mit dessen Wohl nicht in Einklang zu bringen sein, ist dies in der Entscheidung zu begründen. Das Gericht hat von vornherein die Pflicht, den Kindeswillen im Rahmen der Amtsermittlung zu erforschen. Denn dieser sei zu berücksichtigen, soweit das mit Kindeswohl vereinbar ist. Eine angemessene Berücksichtigung findet der Kindeswille selbst dann, wenn er gegen andere Kindeswohlkriterien abgewogen und ihm im Ergebnis nicht nachgekommen wird.
Hinweis: Seit Juni 2021 gilt die Anhörungspflicht unabhängig vom Alter des Kindes. Eine Unterscheidung nach dem Kindesalter hielt der Gesetzgeber im Hinblick darauf für nicht erforderlich, dass die Fähigkeiten eines Kindes, einen eigenen Willen zu entwickeln und im Verfahren zum Ausdruck zu bringen, individuell verschieden und nicht vom Alter des Kindes abhängig sind. Bereits zuvor war die Anhörung von Kindern jedenfalls ab einer Altersgrenze von drei Jahren als erforderlich erachtet worden.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.02.2024 – 18 UF 221/23
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(aus: Ausgabe 07/2024)