Ein kontaktloser Unfall ist in seiner Haftungsverteilung von Natur aus nicht so einfach zu bewerten. Im Folgenden war es am Oberlandesgericht Saarbrücken (OLG), den Abbruch eines Überholvorgangs in Beziehung zum Sturz eines Fahrradfahrers zu setzen, der zuvor noch wütend mit dem Arm gefuchtelt hatte. Wer trägt hier die Hauptlast – der Radler, der bei einer relativ hohen Geschwindigkeit nicht beide Hände am Lenkrad hatte, oder der Kfz-Führer, der erst gar nicht zum Überholvorgang hätte ansetzen sollen? Sie ahnen es sicherlich, aber lesen Sie selbst.
Ein Autofahrer befuhr eine Landstraße in derselben Fahrtrichtung wie eine Gruppe Rennradfahrer, die ihrerseits mit ca. 30 km/h unterwegs war. Zu langsam für den Autofahrer, der schließlich zum Überholen ansetzte. Als er sich neben der Gruppe befand, sah er ein Fahrzeug mit Pferdeanhänger entgegenkommen. Er bremste daher stark und brach den Überholvorgang ab, die entgegenkommende Fahrerin des Anhängerfahrzeugs hatte ebenfalls bis zum Stillstand abgebremst. Die Radfahrer wandten sich faustschüttelnd dem Autofahrer zu, es kam zu Schwankbewegungen, wodurch zwei Radfahrer zusammenstießen und mehrere Fahrer stürzten. Einer der Fahrer forderte Schadensersatz und Schmerzensgeld. Er war der Ansicht, dass es zwar zu keinem Kontakt mit dem Auto gekommen sei, das Überholmanöver aber die alleinige Ursache für den Sturz gewesen sei.
Das OLG gab dieser Sichtweise recht und entschied, dass der Autofahrer zu 2/3 haften muss. Zwar war es nicht zu einem Kontakt mit den Fahrrädern gekommen. Der Autofahrer hat aber bei einer so unklaren Verkehrslage nicht überholen dürfen, zumal es bereits zweifelhaft war, ob der geforderte Seitenabstand zu den Radfahrern an dieser Stelle überhaupt hätte eingehalten werden können. Die Stelle, an der zum Überholen angesetzt wurde, war zudem nicht optimal einzusehen, so dass der Gegenverkehr erst spät erkannt werden konnte. Und da der Überholvorgang noch nicht komplett abgeschlossen war, gab also einen engen, zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zwischen Überholen und Sturz. Dieser Zusammenhang rechtfertige hier eine Zurechnung, zumal auch nicht nachgewiesen war, dass der Autofahrer schon komplett hinter den Rädern eingeschert war. Den Radfahrer treffe aber ein Mitverschulden zu einem Drittel, da das Gestikulieren bei hoher Geschwindigkeit natürlich eine erhöhte Sturzgefahr berge.
Hinweis: Bei einem berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat.
Quelle: OLG Saarbrücken, Urt. v. 15.12.2022 – 4 U 136/21
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(aus: Ausgabe 04/2023)