Überholen darf ein Fahrzeugführer stets nur dann, wenn er eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vollständig ausschließen kann. Und so hinderlich und ärgerlich eine Kolonne auch sein mag, die sich beispielsweise hinter einem langsamen Verkehrsteilnehmer bildet: Ob sie automatisch eine „unklare Verkehrslage“ darstellt oder ob man sie sehr wohl überholen darf, musste das Landgericht Lübeck (LG) hier klären.
Auf einer Landstraße hatte sich hinter einem Traktor eine Kolonne gebildet. Ganz am Ende der Kolonne fuhr der Kläger. Vor ihm fuhren zwei weitere Autos. Nachdem ein Überholverbot endete, begann der Kläger, von hinten die Kolonne links zu überholen. Als er sich auf Höhe des Wagens direkt hinter dem Traktor befand, scherte plötzlich dessen Fahrerin ebenfalls zum Überholen aus. Der Kläger versuchte, noch auszuweichen, aber schrammte bei diesem Manöver mit seinem Auto den Traktor entlang. Wer war hieran nun schuld? Der Kläger, der als Letzter mit dem Überholvorgang begann, obwohl er dabei die längste Überholstrecke zu überwinden hatte? Oder die ausscherende Fahrerin, die sich direkt hinter dem hinderlichen Traktor befand? Oder gar beide?
Das LG sah das ganz klar: Haften müssen hier beide. Die ausscherende Fahrerin hätte nur dann überholen dürfen, wenn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen gewesen wäre. Der Umstand, dass es überhaupt zu dem Unfall und zum Zusammentreffen vor dem LG gekommen sei, spräche dafür, dass die Frau eben nicht gut genug aufgepasst hatte. Der Kläger hatte die Kolonne grundsätzlich überholen dürfen. Zwar gelte die Regel, dass bei „unklarer Verkehrslage“ nicht überholt werden dürfe – nicht jede Kolonne sei aber per se eine „unklare Verkehrslage“. Es hätten im Prozess keinerlei Umstände festgestellt werden können, die gegen seinen Überholversuch sprachen. Und dennoch muss sich der Kläger an dem Schaden beteiligen. Schließlich sei auch für ihn der Unfall nicht völlig unvermeidbar gewesen. Denn selbst, wenn das Überholen einer Kolonne nicht verboten sei, hätte ein „Idealfahrer“ dies angesichts der damit verbundenen Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen. Die generelle Haftung eines Autofahrers (die sogenannte „Betriebsgefahr“) entfalle daher nicht völlig. Somit musste sich der Mann eine 20%ige Mitschuld zurechnen lassen.
Hinweis: Eine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 Straßenverkehrs-Ordnung liegt vor, wenn der Überholende nach den objektiv gegebenen Umständen nicht mit einem ungefährlichen Überholvorgang rechnen darf. Allein eine Verringerung der Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs reicht hierfür in der Regel nicht aus.
Quelle: LG Lübeck, Urt. v. 28.07.2023 – 9 O 27/21
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(aus: Ausgabe 12/2023)