Das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) musste sich in einem Rechtsstreit mit der Frage beschäftigen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit von einem gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne der europäischen Erbrechtsverordnung gesprochen werden kann.
Der Erblasser, ein deutscher Staatsangehöriger, verstarb im Oktober 2023 in einem polnischen Pflegeheim. Vor seinem Tod hatte er in Deutschland gelebt und war aufgrund einer Demenzerkrankung im April 2023 gegen bzw. zumindest ohne seinen Willen von der Ehefrau in einem Pflegeheim in Polen untergebracht worden. Eine familiäre oder soziale Beziehung nach Polen bestand nicht. Nach seinem Tod beantragte seine Witwe beim Amtsgericht Singen (AG) die Ausstellung eines Erbscheins, der sie als Alleinerbin ausweisen sollte. Das AG wies den Antrag jedoch zurück, da es sich für international unzuständig erklärte. Es argumentierte, dass der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen gehabt habe, was gemäß der europäischen Erbrechtsverordnung die Zuständigkeit der polnischen Gerichte begründe. Gegen diesen Beschluss legte die Frau erfolgreich Beschwerde ein.
Die zentrale Frage des Beschwerdeverfahrens war, wo sich der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers befand. Die europäische Erbrechtsverordnung legt fest, dass die Gerichtsbarkeit des Mitgliedstaats zuständig ist, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dieser gewöhnliche Aufenthalt wird durch eine Gesamtbeurteilung der Umstände bestimmt – darunter die Dauer des Aufenthalts, familiäre Bindungen, sprachliche und soziale Verbindungen sowie die Absicht des Erblassers, an einem Ort zu bleiben. Bei pflegebedürftigen Personen ist der Wille zur Begründung eines dauerhaften Aufenthalts besonders wichtig.
Das OLG kam zu dem Ergebnis, dass der Erblasser trotz seines Aufenthalts in einem polnischen Pflegeheim seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte. Der Erblasser sprach kein Polnisch, hatte keine sozialen Kontakte in Polen und war gegen seinen Willen in das Pflegeheim gebracht worden. Auch sein gesamtes Vermögen sowie seine familiären Bindungen lagen in Deutschland. Daher sei der Erblasser in Polen nicht dauerhaft ansässig gewesen. Die Verlegung in das polnische Pflegeheim erfolgte nur aus finanziellen Gründen, da die Pflegekosten in Polen günstiger waren als in Deutschland. Da der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers weiterhin in Deutschland lag, war die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben. Das AG wurde somit für die Erteilung des Erbscheins als zuständig erklärt und die Sache zur weiteren Entscheidung dorthin zurückverwiesen.
Hinweis: Zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist in objektiver Hinsicht der tatsächliche Aufenthalt im Sinne einer körperlichen Anwesenheit erforderlich. Unschädlich ist eine vorübergehende Abwesenheit, wenn der Wille bestand, an den Ort des Aufenthalts zurückzukehren.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.07.2024 – 14 W 50/24
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(aus: Ausgabe 10/2024)