In Umgangsstreitigkeiten muss das Familiengericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausschöpfen, bevor es entscheidet. Ob eine Familienrichterin bei aller Erfahrung aber auch geeignet ist, ihr Urteil auf eigene subjektive Erfahrung zu stützen, ohne in der Angelegenheit auf die Expertise von Sachverständigen zurückzugreifen, musste das Oberlandesgericht Hamm (OLG) entscheiden.
Den im Jahr 2008 geborenen schwerstbehinderten Sohn wollte der Vater alle 14 Tage am Wochenende in seiner Wohnung betreuen. Die Mutter meinte, der Vater könne dies nicht so gut wie sie und werde dem Kind deshalb schaden. Ein Gutachter beobachtete den Vater-Sohn-Kontakt, äußerste sich zu verschiedenen pflegerischen Fragen, aber nicht zum Kindeswohl – das lag außerhalb seiner Profession. Die Familienrichterin telefonierte daraufhin mit der Kinderärztin und begleitete höchstpersönlich einen Umgangskontakt zwischen Vater und Sohn. Mit dem Kind konnte sie dabei nicht kommunizieren. Anschließend bewilligte sie dem Vater auch die Übernachtungskontakte.
Mit ihrer Beschwerde beim OLG hatte die Mutter zumindest vorläufig Erfolg, denn die Akte wurde wegen Verfahrensfehlern zurück in die erste Instanz gegeben. Die Richterin hätte die angestrebte Ausweitung des Umgangs mit einem Sachverständigengutachten eines Kinder- und Jugendpsychologen prüfen lassen müssen statt durch eigene Ermittlungen. Das vorliegende Sachverständigengutachten gebe nämlich zum Kindeswohl beim Umgang nichts her, weil der Arzt sich nur zu den behinderungsbedingten und pflegerischen Fragen geäußert habe. Bei der Frage, ob die angestrebten Umgangskontakte mit dem Kindeswohl vereinbar sind, sei aber zusätzlich zu prüfen, wie sich die pflegerische Versorgung durch den Kindesvater auf den Sohn sowohl psychisch als auch gesundheitlich auswirke. Die telefonisch kontaktierte Kinderärztin verfüge nicht über die notwendige psychologisch-psychiatrische Qualifikation, das zu beurteilen. Und auch die Beobachtung des Umgangskontakts durch die Richterin könne die sachverständige Klärung nicht ersetzen.
Hinweis: Der Einschätzung von Sachverständigen kommt in Gerichtsverfahren hohe Bedeutung zu, weil die Richter ihre eigene Einschätzung nicht wichtiger nehmen dürfen als die Bewertung durch Fachleute. Hausbesuche und Umgangsbegleitung von Familienrichtern sind deshalb eine absolute Ausnahme – in diesem besonderen Fall sollten sie womöglich die Anhörung des Kindes ersetzen.
Quelle: OLG Hamm, Beschl. v. 17.10.2023 – 4 UF 89/23
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(aus: Ausgabe 12/2023)